Eiszapfen in der Tiefe

Winter. 4 Grad. Eiseskälte; und ich laufe auf der Straße herum. Es ist bereits Mitternacht. Nur noch der Klang meiner Stöckelschuhe ertönt auf dem Asphalt. Nichts außer mir bewegt sich mehr auf den Straßen; dachte ich jedenfalls. Kurz nach diesem Gedanken konnte ich eine Unruhe in mir spüren. Auf einmal wirkten die Straßen nicht mehr sicher. Und Stopp. Ein Kalter Gegenstand befand sich in meinem Nacken. „Schicksal nimm deinen Lauf.“ Eine raue, kratzige Männerstimme dran in mein Ohr und ohne jeden Kontext wusste ich, wer hinter mir Stand und welcher Gegenstand sich in meinem Nacken befand. Doch bevor ich weiter denken konnte, bewahrheitete sich mein Verdacht. Ich hörte wie er die Waffe entsicherte. Ich atmete laut. Er konnte es hören; ich war mir sicher, dass er es hören konnte. Eine Träne floss mir die Wange hinunter und mein Herz pochte so laut, dass ich anfing zu glauben, dass er es ebenfalls hören konnte. Ich zwang mich zu einem Lächeln, während mir die zweite Träne in den Augen brannte. „Jenes Schicksal ist besser als jenes, das uns im Kloster erwartet.“ Ein raues schweres Lachen stieß er aus. „Ach glaub mir, das wird noch viel besser.“ Verängstigt starrte ich auf den leeren Weg vor mir. Alles geschieht im Sekundentakt. „Was meinst d…“ Licht aus. Ich falle; und das immer weiter. Langsam erscheint ein schwaches Licht, und…. PLATSCH! Ich liege auf einer Art Glasoberfläche. Sie fühlt sich kalt an. So kalt. Ich versuche mich zu bewegen. Ich versuche aufzustehen, doch es scheint, als sei ich  gelähmt; als wäre ich fest getackert an der Oberfläche, die sich wie gefrorenes Wasser anfühlt.

Aus dem Augenwinkel kann ich erkennen, dass meine Haut einen eigenartigen Grünton annimmt. Auch meine Adern verändern ihre Farbe schnell; schneller noch als meine Haut. Das leuchtende Rot meiner Adern spiegelt sich nun sogar in der scheinbar unendlichen, schwarzen Leere, die sich anstelle des Himmels über mir befindet. Eine schwarze Gestalt drängt sich in meinen Augenwinkel und flüstert nach einer Weile: „Du hast lange durchgehalten. Ich hätte dich schon früher erwartet.“ Ich hörte durch den Klang ihrer Schuhe die Gestalt näher treten, doch durch die Kälte entstanden, als sie sprach, so viele Nebelschwaden, dass ich nur ihre pinken Pumps erblicken konnte. Nun spürte ich, wie ich über den furchtbar kalten Boden geschliffen wurde. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und ich konnte nicht sagen, was ich jetzt tun würde, könnte ich mich bewegen. Ich spürte, wie mir wieder eine Träne die Wange runterfloss und kurz danach konnte ich ein Knacken hören. Es ertönte unmittelbar unter mir. „Du widerwertiges Wechselbalg! Du dreckiger Lump! Du… du verachtenswertes ..Balg! Was hast du getan? Ist dir Klar was du getan hast? Bleib bloß liegen!“ Tausende, kleine Risse erschienen auf dem Boden und eine Art Qualm drang durch sie hindurch. Die Risse begannen zu leuchten und gaben seltsame Geräusche von sich; schrill, monoton, elektronisch, laut, verängstigend. Eine Art immer lauter werdende Sirenen ertönen immer und immer wieder. Der Qualm lässt die Umgebung erhitzen; sie verbrennt geradezu. Die Dame in den pinken Pumps war völlig außer sich. Voller Panik rannte sie erst nach links, dann nach rechts und schließlich wieder nach links. Aufgebracht murmelte sie: „Oh Herr, Oh Herr, ich bitte dich! Lass es nicht zu! Hörst du nicht?“ „Tu mir das nicht an!“, schrie sie. Sie schrie und rannte davon. Meinen bewegungsunfähigen Körper ließ sie einfach liegen. Eine hohe Stimme war zu hören. Erst ganz leise, doch mit jedem Mal wurde sie lauter und wiederholte immer wieder das gleichen Wort: „Renn!“ Mittlerweile bestand die Glaskuppel auch nur noch aus kleinen Rissen, die von Licht durchflutet wurden.

Ich hielt kurz inne. „Renn„? Ich löste mich aus der Starre. Es brannte. Ich erlitt einen schmerzhaften, stichartigen Schmerz, der sich anfühlte, als würde ich meinen Rücken von glühenden Kohlen lösen. Es tat nicht nur weh, sondern war auch anstrengend. Zwischendurch spielte ich mit den Gedanken, wieder aufzuhören. Ich hätte es auch fast getan, wäre da nicht diese Stimme gewesen. Ihre hohen Töne waren unerträglich grell. Sie wurden mit jedem Mal lauter. Nun fing ich an, mich langsam aufzurichten. Als ich einen festen Stand erlangte, war ich überaus erleichtert und auch von Schmerz erfüllt. Qualvoll trat das das Blut aus meinen Adern. Keine Zeit, keine Zeit hatte ich. Weg! So schnell wie möglich musste ich hier weg! Gerade wollte ich flüchten. Ich drehte mich um die eigene Achse, doch dann blickte ich an mir hinunter. Ungläubig starrte ich auf den Boden. Dort wo ich zuvor gelegen hatte, klebte nun eine braune Schicht. Sie sah aus wie.. Nein. Das konnte nicht sein. Mir wurde schwarz vor Augen und langsam ertastete ich meinen Rücken herauf. Plötzlich blieb mir die Luft weg. Ich schnappte nach Luft. Mein Rücken… er war.. Meine Rippen.. ich konnte sie…. ich konnte sie.. oh scheiße.. mein Blut rann durch meine Finger. Ich sah das Blut über mein Rückenmark laufen, dass an der eisigen Oberfläche klebte. Ich schrie, doch ich vergas die Risse; die Abermillionen kleinen Risse unmittelbar unter meinen Füßen. Der Boden fing plötzlich an zu wackeln. Durch meine unpraktische Schuhwahl für den Abend fiel ich wieder zu Boden. Er war genau so kalt wie zuvor gewesen; und genau wie zuvor konnte ich mich nicht mehr bewegen. Zu meinem Nachteil rüttelte sich aber diesmal die ganz Leere mit den leuchtenden Rissen. Ich wurde so doll geschüttelt, dass ich mich ohne körperliche Anstrengung über den kompletten Boden rollte. Es war schmerzhafter als je zu vor. Solch einer Intensität war ich mir noch nie zu vor bewusst. Spüren konnte ich es, wie jede Hautschicht und die mit ihr verbundenen Nerven einzeln abgerissen wurde. Auf dem Schwarz konnte ich die Überbleibsel meiner Haut ersehen. Auch mein Blut akzentuierte gemeinsam mit ein paar meiner Rippen die Glasoberfläche.

…Kritsch! Es geschah. Ich versank im Untergrund. An der Stelle, in der Ich einriss, zersplitterte der Boden. Sie waren überall! Jede stelle an meinem Körper, die noch mit Haut überzogen war, wurde von Stacheln durchbohrt, dessen Konsistenz an angespitzte Eiszapfen erinnerten, die nicht schmolzen und nach Kleingeld rochen. Der herbe Gestank wirkte stark; er betäubte mich fast. Sie befanden sich überall. Ich fiel nicht weiter. Das Rütteln hatte aufgehört, doch als ich es realisierte, stand Eugen vor mir. Mein Mund war gefroren. Sprechen war unmöglich. Er sah mich nur an. Er blickte an mir auf. Er blickte an mir herab.  Er riss die Augen leicht auf, als er meinen verstümmelten, aufgespießten Körper betrachtete; und doch lächelte er. Dieser ekelhafte Mistkerl. Er sagte etwas, doch ich verstand ihn nicht. Es hörte sich japanisch an. Er gestikulierte wild mit den Händen. Im Hintergrund entstanden blaue Hühner, die meinen Namen flüsterten. Eine gelbe Ratte bewarf den Mistkerl mit einem rotem Eiszapfen. Die grelle Stimme summte erneut im Hintergrund. Er sprach lauter, doch ich verstand ihn immer noch nicht. Das Federvieh flüsterte laut in Harmonie mit der schrillen Stimme; sie hörten sich gemeinsam an wie der Song The Beutyful People von Marilyn Manson an. Der Schmerz, der einerseits von der Verstümmelung meines verrottenden Körpers und andererseits von der Kälte kommt ist fast vergessen. Meine Aufmerksamkeit gebührt nur noch den schreienden farbwechselnden Hühnern und ihrer Showeinlage. Allerdings stört es mich, dass sie meinen Lieblingssong alle 7 Sekunden stoppen und dann erneut anfangen. Das ist echt nervig! So nervig wie an einem Montag nach den Ferien wieder früh aufzustehen, wenn der Wecker… Meine Gedanken hielten inne. Wecker…? Nein. Nein, warte. Plötzlich sah ich mich. Ich saß auf einem Stuhl an meinem Schreibtisch. Es ist 6.00 Uhr in der Früh. Ich sitze zwischen tausenden von Lernzetteln, die nun wahrscheinlich unbrauchbar sind. Wie konnte ein Mensch nur so viel sabbern? Ich öffnete ein Auge, dann das Zweite. Mein Mund war völlig trocken. Ich hatte bestimmt nicht mal drei Stunden geschlafen, doch in meinem See aus Speichel könnten Entchen baden gehen. Ich würde so gern wieder schlafen gehen, doch meine Arbeit lässt es nicht zu! Ich bin übermüdet. Ich bin ausgelaugt. Vielleicht wünschte ich mir ja gerade sogar, dass mein verstörender Traum war gewesen wäre.

 

Bild von Caprice Estelle Huly selbst entworfen, enthält CC-Lizenz